Der Schreibmaschinenkurs

Mit einem unscheinbaren Köfferchen stand sie am Eingang des Herner Bahnhofs. Es regnete und sie wartete auf den Bus. Der Bahnhof besaß einen überdachten Eingang, die Bushaltestelle hatte keinen Regenschutz zu bieten, also wartete sie im Bahnhofseingang geduldig.

Um an einem Schreibmaschinenkurs teilzunehmen, mußte sie von der elterlichen Wohnung aus, die auch unmittelbar an einer Bushaltestelle lag, um halb acht abends losfahren. Der Kurs begann um 20 Uhr und dauerte zwei Stunden. Dann endlich konnte sie heimfahren. Falls sie schnell genug den Kursabend beenden konnte, schaffte sie den Bus um 22.08 Uhr. Hatte sie Pech, so wie heute, dann mußte sie noch warten. Die Eltern würden bestimmt wieder fragen, wo sie sich noch rumgetrieben hätte. Wo schon?, dachte sie doch schon sehr müde.

In diesem Moment hielt ein großes, dunkles Auto vor ihr. Der Fahrer hatte die Scheibe auf der Beifahrerseite heruntergedreht. Vielleicht ist er fremd hier und will mich nach dem Weg fragen? Sie schaute hin und erkannte, dass der Fahrer des Autos ein nicht mehr ganz junger Mann war. Er bemerkte es und fragte, wohin sie wolle, denn er müßte gerade in den Stadtteil, nach dem sie an der Haltestelle Ausschau gehalten hätte. Sie überlegte kurz, stieg aber dann ein. ‚Wird schon nicht so schlimm sein und die Schimpfe zu Hause würden geringer ausfallen' war ihr Gedanke.

Skeptisch sah sie sich im Wageninneren um. ‚Wie bei Onkel Josef in Dortmund.' Nichts ungewöhnliches: Handschuhe, Zigaretten, Sitzbezüge und ähnliches. Schon ging es auch über die erste Kanalbrücke. Das hieß für sie, gleich schon zu hause zu sein. Doch wo will er hin? Er fährt an der Straße vorbei, an der er eigentlich hätte abbiegen müssen. Die nächste Kanalbrücke wurde überquert, der Weg führte nach Pöppinghausen.

Stumm und erschrocken sitzt sie da und weiß nicht, ob sie überhaupt etwas sagen soll. ‚Ich habe Angst', dachte sie, und einen Fehler gemacht.' "Ich will nach Hause" sagt sie zu sich oder zu dem Kerl, doch er fährt weiter und biegt in eine Einfahrt ab. ‚Geschafft, er dreht!'.

Er schaltet das Fahrzeug aus und beginnt ohne Worte sie zu küssen, zu streicheln und zu drücken. "Umarm mich doch wie eine Schlange, das machen die anderen Frauen auch immer so" beschwert er sich. Sie sagt: "Ich bin zwölf Jahre alt, ich will nach Hause, ich habe Angst!". Jetzt hält er ein, grinst und fragt, ob sie Hunger habe. Sie weiß nicht, was sie sagen soll, außer: "Meine Eltern schimpfen, ich will nach Hause!" Aus seinem Gesicht verschwindet das Grinsen. Er wendet das Fahrzeug und fährt los. Angst schnürt ihr die Kehle zu. Wohin fährt er?

Nun beendet er sein Schweigen und sagt: "Nun fahren wir in meine Kneipe, da bekommst Du etwas zu essen und zu trinken und dann beruhige Dich erst einmal.

Du hast nämlich am Bahnhof gestanden, wo solche Frauen immer stehen. Welche Frauen? dachte sie, fragte es aber nicht - aus Angst, denn schon wieder fuhr er über eine Kanalbrücke. Hoffentlich weiß ich gleich, wo ich bin überlegte sie ängstlich, dann laufe ich gleich weg, wenn er nur anhält.' Endlich taucht eine belebte Straße mit drei Kneipen auf. Er parkte das große Auto umständlich ein. Sofort nutzte sie ihre Chance, riß die Tür auf, nahm das Schreibmaschinenköfferchen und rannte auf die Straße in den Regen. Der Mann rief ihr noch irgend etwas unverständliches nach. Es klang sehr unfreundlich. Das beschleunigte ihre Schritte noch mehr.

Verzweiflung machte sich breit, denn sie kannte die Straße mit den drei Kneipen in Holthausen. Keine Bushaltestelle in Sicht und eine Stunde Fußmarsch im Regen über dunkle Straßen, die auch am Friedhof vorbei führten. Während sie so rannte und ihren Gedanken nachhing, flogen die dunkle Landschaft und die Scheinwerfer vereinzelter Autos wie in einem Alptraum an ihr vorbei. Endlich. Sie stand vor der elterlichen Wohnung in Horsthausen und drückte mutig auf den Klingelknopf. Nach ein paar Sekunden bangen Wartens ertönte das Summen des Türöffners.

Oben auf der Treppe stand, wie erwartet, die Mutter mit einem versteinerten Gesicht. Sofort begann sie zu lamentieren: "Wo kommst Du jetzt her und wie siehst Du aus? Hast Du Dich etwa wieder mit Jungen herumgetrieben? Schämst Du Dich denn gar nicht und schreckst Du noch nicht einmal vor diesem Wetter dabei zurück? Und dafür geben wir das Geld für eine Schreibmaschine und einen Kursus aus?"

Das Gezeter nahm kein Ende. Zum Abschluß folgte die Aufforderung der Mutter an ihren Vater: "Alfred, nun frag Du sie mal, wo sich so lange herumgetrieben hat." Der Vater fragte: "Wo warst Du? Und mach ja nicht so ein ‚Leck - mich -am - Arsch '-Gesicht!" und schlug ihr ins Gesicht. Keine Antwort. "Oder soll ich den Gummischlauch holen?" fragte er.

Sie sagte nur: "Der Bus hatte Verspätung."

Der Gummischlauch wurde geholt. "Sag die Wahrheit!" forderte der Vater immer wieder während er zuschlug, zuschlug, zuschlug....

© 2003 Chris Jäger


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