Dortmund

Diese Erzählung habe ich im Bürgerfunk des Herner Lokalradios unter dem Titel "Verlorene Schokolade" als eigenständige Sendung veröffentlicht.

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Wiedereinmal besuchte ich mit meiner Mutter in den Schulferien eine entfernte Verwandte in Dortmund. Ich war zu dieser Zeit noch keine zehn Jahre alt. Diese Tante mit dem Namen Liesel bot schon beim bloßen Anblick einen Grund zur stetigen Erinnerung. Sie war eine Frau in den mittleren Jahren mit einer stattlichen Figur und rötlichen Haaren, der üppige Leib war mit einer weißen Schürze eingeschnürt, sah dabei aber nicht beängstigend aus.

Eher beängstigend wirkte Opa Wilhelm. Er hatte weißes Haar und einen weißen, langen Bart. Häufig thronte er in einem großen Ohrensessel vor einem dunklen Vorhang. Eigentlich war er nicht mein Opa, aber er wollte gerne so von mir genannt werden. Dieser "Opa" war für mich eine furchteinflößende Figur. Dann der finstere Vorhang. Während der Opa ständig ein Küsschen von mir wollte, was ich beharrlich verweigerte, drehten sich meine Gedanken ständig um die verborgenen Dinge hinter dem Vorhang. Später sollte ich Stück für Stück dieses Geheimnisses kennen lernen.

Nach der schwierigen Begrüßungszeremonie begann die schöne Zeit für mein Kinderherz. Da war der Lebensmittelladen von Tante Liesel. Oh Wonne, Salz und Zucker wiegen mit alten Gewichtsteinen, alte spitze Papiertüten, die gewagtesten Träume eines kleinen Mädchens. Einen eigenen echten Kaufladen, nicht in Puppenstubengröße. War das eine Freude, ich wog viel mehr ab von dem Zucker und dem Salz, als die arme Tante jemals hätte verkaufen können. Als es nichts mehr abzuwiegen gab, begab ich mich in die Ecke hinter der tollen eisernen Registrierkasse. Die vielen Bonbongläser und die kleinen viereckigen Schokoladentäfelchen, die Dauerlutscher mit verschiedenen Figürchen , Schornsteinfeger, Teddy Bären, Püppchen, nicht mehr enden wollende Herrlichkeiten, alles bereitete mir auf irgendeine Weise große Freude. Besonders entzückt hat mich auch am frühen Morgen die Brötchenlieferung. 60 frische Brötchen. Schon begann ich einzupacken in weiser Voraussicht, daß irgendeiner vielleicht zwei, vier oder gar sechs Brötchen haben wollte. Danach durfte ich den Frühstückstisch decken und den Käse abschneiden mit einer altmodischen Käseschneidemaschine. Aber das wichtigste von allen Dingen war es, die Frühstückseier zu durchleuchten. Nach dem Frühstück galt es für mich, die Wohnung und das Haus und den Keller sowie die angeschlossene Gaststätte zu erforschen. Eine Menge an neuen Erlebnissen kamen da auf mich zu.

Also wurde der Laden gründlich nach den zu verzehrenden Süßigkeiten durchforscht, denn Tante Lieschen, so durfte ich sie nennen, sagte immer zu meiner Mutter: "Lass das Kind ruhig essen!".

Sehr zum Leidwesen meiner Mutter. Sie war dann immer die unglückliche, die am Abend aus dem Bett musste nach einem glücklichen Kindertag, der bei mir mit Burgwallbronn (ein in dieser Zeit aktuelles Mineralwasser) gemischt mit Himbeersaft endete. Natürlich wurde mir schlecht, weil mir die oben beschriebenen Köstlichkeiten in den Mengen natürlich nicht bekommen sind und mir mein Magen die Wiedergabe empfahl. Tante Lieschens Stimme sagte dann immer: "Hildegard, das Kind muß göbeln. Hol doch mal rasch den Eimer." Nach dem Aufruhr, den ich durch meine Fresslust veranstaltet hatte, schlief ich selig ein. Wir schliefen in einem altmodischen Doppelbett in geblümter, seidenweicher Bettwäsche. Doch das schönste aller Dinge, weil es das zu Hause nicht gab, war eine seidene, braune Kordel. Zog man an ihr, so musste jemand aus dem Erdgeschoß nach oben kommen und schauen, ob etwas nicht in Ordnung war. Ganz früher hatte dieser Haushalt auch das nötige Personal, das diese Herrschaften bediente. Nun ja, beschloss ich, mir fehlt nichts, also durfte ich leider nicht dauernd an der Kordel ziehen.

Ich hatte diese wunderschöne luxuriöse Umgebung mit mahagonifarbenen Möbeln. Einen Schminktisch mit vielen nie gesehenen Dingen. Eine riesige Puderquaste und einen riesigen Topf Puder dazu. In den nächsten Tagen bediente ich mich reichlich, meine gesunde Farbe wich einem bleichen, puderigen Teint. Tante und Mutter bemerkten es zwar, aber sie ließen mich gern hantieren, denn meine Mutter und Tante Lieschen hatten sehr viel Arbeit.

Die Puderdose war ja auch nicht das einzige Kleinod, das mein Kinderherz entzückte. Zu den Schminkutensilien gehörte auch noch eine ganze Menge Schmuck, der ebenfalls ausprobierenswert war. Besonders gut gefiel mir eine Brosche mit einem Stein aus Jade. Sie war so groß, daß sie einem Großwesir aus dem Märchen "Tausend und eine Nacht" gut den Turban geschmückt hätte.

Dann gab es noch Kameen, Ringe und Broschen, Elfenbeinschmuck und goldene, silberne sowie mit Diamanten verzierte Armreifen. Unvergessen war ein Ring, der mir natürlich viel zu groß, aber von mir heißbegehrt war wegen des großen hellblauen Steines. So geschmückt schritt ich dann entschlossen zum Kleiderschrank, um der Maskerade das Tüpfelchen auf dem "I" zu verpassen. Entschlossen griff ich zu einem Abendkleid aus grüner Wildseide, Tante Lieschen stand höchstwahrscheinlich darauf. Heute verstehe ich es. Sie hatte ja rötliches Haar und eine helle Haut. Doch weiter zu meiner Kleiderwahl. Ich blieb bei dem wirklich schönen grünem Kleid. Es war natürlich viel zu weit, doch der Experimentierfreude eines kleinen Mädchens konnte das nicht den Garaus machen. Dieser große Schrank mit dem riesigen Ankleidespiegel barg noch so einige wunderbare Dinge. Gürtel nämlich, aus schwarzem Samt mit Strasssteinchen besetzt, in Gold und silberfarben. Herrliche Vielfalt. Ein schneller Entschluss: grüne Wildseide mit silbernernem Gürtel.

Doch was sollte ich darüber anziehen? Viele Pelze standen zur Auswahl. Ich wählte einen braunen mit langen Haaren (es war Wolf gefedert, weiß ich heute), dazu noch ein paar hochhackige elegante Pumps aus schwarzen Wildleder. Geschafft. Ich ließ mich auf das Bett fallen, doch halt, bevor meine Tante dann endgültig das Haus verließ, bestäubte sie sich noch reichlich mit dem Inhalt der kostbaren Kristallflakons, die verlockend die Farbe des Inhaltes freigaben, zum Beispiel rosé, goldgelb oder hellgrün. Luxus umgab mich und ich sonnte mich in dem geliehenem Reichtum. Beherzt griff ich nun nach dem Flakon mit der rosa Farbe. Ich drückte fest auf den Gummiball und versank im betörenden Duft. Mein Gott, war mir schlecht. Das war der Körper, nun kommt der Geist an die Reihe.

Auf dem Nachtkästchen dieser göttlichen Tante lag ein Büchlein mit dem Namen ‚Readers - Digest'. Höchst interessant, so etwas liest man also, wenn man über diese ganzen Herrlichkeiten verfügt. Also aufgeschlagen und gelesen muß es sein, das gehört dazu. Verwundert las ich dann folgenden Satz: "Da saß ein Mann an seinem Sekretär und schrieb seiner Frau einen wichtigen Brief.". Nun hatte ich mit meinem Alter von sieben Jahren und meinem allseits bekannten weltoffenem Wesen schon vielerlei erlebt. Doch das da jemand ein Tier quält, um seiner Frau einen Brief darauf zu schreiben, war für mich unvorstellbar. Also mein Vater würde das nie tun, obwohl er schon viel geschrieben hat.

Nun begannen sich in meinem Kopf die Rädchen zu bewegen. Ich begann mein Gedächtnis zu martern. Seehund, Seelöwe, Seepferdchen, Seeigel und einige mehr kannte ich. Doch, was um alles in der Welt, war das für ein Tier, das im Wasser lebte mit dem Namen "Seekretär"? Was um alles in der Welt brachte die Menschen dazu, auf dem armen Tier Briefe zu schreiben, an wen auch immer?

Ja, wie viele unverständliche Dinge für ein kleines Mädchen sollten dann noch folgen. Für den heutigen Nachmittag sollte es erst einmal reichen. Erkundigen machen ja auch hungrig und müde. Vergnügt und in dem Bewusstsein, mich belohnen zu müssen, aß ich ein paar von Tante Lieschens Pralinés und räkelte mich noch einmal final auf dem wunderschönen geblümten Bett. Dann musste ich mich von den schönen Sachen trennen, ehe ich Unwillen erregte. Ich sollte mich jetzt lieber in das untere Geschoss begeben.

Ängstliches kleines Mädchen Ich öffnete die Schlafzimmertür und dieser typische Geruch aus diesem finsteren, feuchten Treppenhaus schlug mir entgegen. Die Kühle der alten Bodenfliesen, die hier schon Jahrzehnte ihr Dasein fristeten und bestimmt schon viel erlebt hatten, bildeten einen Kontrast zu dem warmen, anheimelndem Schlafzimmer. Biergeruch und abgestandener Qualm mischte sich im Erdgeschoss mit den Grüchen aus dem alten, feuchten Gemäuer, da die Tür zur Gaststätte nur angelehnt war. Ein gepolsterter Ledergurt verhinderte das Zuschlagen der Tür. Gegenüber der Gaststätte befand sich ein Zimmer, das wohl nur privat genutzt wurde. Dieser Raum, den ich nun betrat, war für mich auch sehr geheimnisvoll.

Meine Verwandten hatten eine Vorliebe für Mahagoni. Da durch das schmalbrüstige Fenster das Licht nur spärlich einfiel, beflügelte das meine ohnehin schon blühende Phantasie. Doch betrachten wir vorerst einmal die Einrichtungsgegenstände. Das interessanteste für ein kleines Mädchen wie mich war eine riesige Frisierkommode. Sie hatte einen Spiegel und man konnte sich ganz darin betrachten.

Die Schränkchen an der Seite der Kommode waren teilweise abgeschlossen. In den offenen Fächern waren nur harmlose Kleinigkeiten, Nähzeug und ähnliches. Doch was war in den nicht geöffneten Schränkchen? Wenn wir doch nur so etwas spannendes zu Hause hätten, aber wir hatten so etwas nicht.

Aber nun weiter zu dem Rest der für mich unheimlichen Einrichtungsgegenstände. In der gegenüberliegenden Ecke des Raumes befand sich ein Kamin mit einem dunklen Glutschirm davor und über dem Kamin auf einer Marmorplatte stand ein altmodisches Bowlenservice, mit unheimlichen Teufelchen verziert. Noch etwas höher, für mich ohne Hilfsmittel unerreichbar, war ein Bücherregal angebracht, darauf standen in dunkles Leder gebunden Reihen von Büchern. Also, wenn oben in dem Zimmer schon so ein unheimlicher Kram in dem Büchlein stand, was wird dann erst einmal in diesen finsteren Werken abgedruckt sein?

Also schnell einen Stuhl herbei geholt und herunter mit diesen finsteren Machwerken. In goldenen Lettern standen auf den Buchrücken Namen wie 'Schiller' und 'Goethe' und 'Hölderlin', 'Kleist' und 'Kant'. Das sagte mir als kleines Mädchen gar nichts. Doch ich wollte ihnen auf die Spur kommen und behielt sie unten für spätere Studien.

Widmen wir nun unsere Aufmerksamkeit den anderen Gegenstände an dem Kamineck. Folgend mit einem kleinem Abstand stand noch ein großer dunkler Schrank mit einer Glasvitrine, gleichfalls gefüllt mit Büchern. Direkt rechts neben der Eingangstür stand ein dunkelbraunes Leder-Kanapee. Es knirschte immer fürchterlich, wenn man sich dort hineinsetzte.

Die Familie benutzte es, um sich zwischenzeitlich einmal hinzulegen. Damit sie die Ruhepause ungestört genießen konnten, stand direkt neben dem Kanapee ein Paravent, natürlich schwarz wie Ebenholz. Dieser Paravent knirschte mit dem Lederkanapee um die Wette bei jedem Fußtritt und verbreitete dadurch auch bei mir immer eine gewisse Angespanntheit. Insgesamt herrschte in diesem Zimmer immer eine unangenehme Atmosphäre. An eine Lampe in diesem Zimmer kann ich mich bezeichnender Weise nicht erinnern. Die Vergangenheit spürte man ganz deutlich in diesem vom großer Arbeit geprägtem Geschäftshaushalt.

Nachdem ich die Bücher in Sicherheit gebracht hatte, wurde es Zeit zum Abendbrotessen. Das wurde bei den "Verwandten" immer sehr genau genommen, denn bei so einem arbeitsreichen Tag war eine pünktliche Mahlzeit sehr wichtig. Nach dem Abendbrot ging der 'Opa Wilhelm' wieder in die Gaststätte, denn er war trotz seines hohen Alters nicht dazu zu bewegen, von den Zapfhähnen, dem Billardtisch und der Kasse loszulassen. Er verrichtete diese Arbeit bis zu seinem Tod, dann wurde die Gaststätte geschlossen. Aber das wusste ich damals noch nicht.

Ich durfte noch dem Mädchen beim Abwasch helfen. Besser: Ich musste, denn meine Tante ist nach der Schule in ein Haushaltsinternat der Betheler Schwestern gegangen und hat dort einen harten Drill erleiden müssen, daher war bei all dem Luxus Hausarbeit für alle weiblichen Mitglieder der Familie eine Pflicht.

Danach wurde ich mit einigen Betthupferln versehen zum Schlafengehen verabschiedet. Leise schlich ich ins Wohnzimmer (Durchgangszimmer, Empfangszimmer?), nahm meine beiseite gelegten Bücher und verschwand ein Stockwerk höher.

Auf zu neuen Abenteuern, denn an diesem Abend sollte ich unverständlicher Weise im Mädchenzimmer schlafen. Fast glaubte ich, daß Mutti meine morgendlichen Sünden entdeckt hatte. Mit dem Parfüm und den unordentlichen Kleidungstücken war es wohl auch kaum zu verheimlichen. Sehr traurig hat mich das nicht gemacht. Denn neues Zimmer bedeutete neue Abenteuer. Doch sollte ich meine Abenteuerlust noch Bereuen. Wenn das untere Zimmer schon finster war, dann war dieses Mädchenzimmer gerade dazu gemacht, um meine wilden Phantastereien total zu befriedigen.

Rechts neben der Tür stand ein schwarzer kleiner Kleiderschrank, zweitürig und verschlossen. Schon wieder verschlossen! Was mochte da nun schon wieder alles drin sein? Noch mehr unheimliche Bücher? Oder wunderschöne Kleider und Mäntel, die ich schon wieder nicht anprobieren sollte? Etwas weiter hinten stand das Bett. Schwarz und nur Platz für eine Person. Es war blau-weiß bezogen und lächelte mich kalt an.

Neben dem Bett stand ein Waschtisch mit einer Steingutschüssel und der dazugehörigen Kanne in den Farben weiß und rosa. Es war wirklich spärlich möbliert, ich fand noch einen Stuhl.

Ein Nachtkästchen und eine unheimliche schwarze Truhe mit Messingbeschlägen reizten meine Neugier. Später erzählte mir meine Mutter, daß es die Aussteuertruhe von Opa Wilhelm war. Er kam vom Lande. Dort hatten seine Eltern einem großen Bauernhof mit einer Bäckerei, in der er auch das Bäckerhandwerk gelernt hatte. Das alles konnte ich an diesem Abend aber noch nicht wissen. Für mich war es das corpus delicti. In dieser Truhe könnte das ehemalige Zimmermädchen verschwunden sein, das man schon seit vielen Jahren vermisste. Man erzählte, sie hätte aus familiären Gründen das Haus verlassen. Doch näheres wusste ich nicht. Schreckliche Unwissenheit, was sollte ich tun, schlafen auf keinen Fall! Geheimnisse über Geheimnisse!

Opa Wilhelm in seinen besten Jahren Wenn nun dieser Opa Wilhelm mit dem langen weißen Bart, der auch von mir immer ein Küsschen haben wollte, auch dieses unschuldige Geschöpf mit seinen unmöglichen Wünschen bedrängt hatte. Dann, diese große schwarze Kiste sah doch aus wie ein Sarg? Möglich wäre aber auch die angenehme Seite. Weil die tollen Kleider und die tollen Mäntel nicht in den großen Kleiderschrank passten, hat Tante Lieschen sie in diese Truhe gepackt. Damit hatte sie diese wertvollen Kleidungsstücke vor den impertinenten Angestellten in Sicherheit gebracht. Sonst hätten sie wohl heimlich einiges anprobiert und verunreinigt. Ja, mit dieser Variante gab ich mich nun zufrieden. Denn ich wollte ja diese Nacht noch schlafen. Ich wusch mir noch das Gesicht und putzte mir die Zähne, zog meinen Schlafanzug an, dann begab ich mich mit einem Buch von diesem Herrn Goethe unter dem Arm ins Bett. Nach ein paar für mich unverständlichen Zeilen schlief ich erschöpft ein. Was für ein aufregender Tag für ein kleines Mädchen.

Der nächste Tag begann wieder mit dem wunderschönen Frühstück. Tante Lieschen ließ es sich nicht nehmen, den Frühstückstisch mit Gastronomiegeschirr einzudecken. Das hieß: Ein Zwiebelmusterkännchen mit Kaffee für zwei Personen, ein kleines Tellerchen mit der nötigen Portion Würfelzucker und ein winziges Kännchen mit Kaffeesahne. Dazu gab es natürlich frische Brötchen, leckere Marmelade, frisch geschnittenen Käse, den ich manchmal im Laden mit der großen Käsemaschine selbst abschneiden durfte und, falls jemand mochte, durfte ich an der Wurstschneidemaschine einige Scheiben Dauerwurst abschneiden.

Danach schickte man mich zum Einkaufen. Meine Aufgabe war es, Kalbsnierenbraten zu kaufen in der etwas entfernten Fleischerei. Opa Wilhelm war mit den Besitzern persönlich befreundet, ich sollte daher Grüße ausrichten. So gab man mir Geld und Tasche in die Hand und ließ mich von dannen flitzen. Der Weg dahin ging unter einer großen dunklen Unterführung lang. Es war irgendwie unheimlich. In der Gegend zuhause gab es so etwas nicht, also beschleunigte ich wieder meine Schritte, um möglichst schnell da drunter weg zu kommen. Angekommen brachte ich hastig meine Wünsche vor, versorgt mit dem Gewünschten und einer großen Scheibe Fleischwurst machte ich mich eilig auf den Rückweg, denn unerforschte Zimmer warteten noch auf mich. Kaum angekommen lieferte ich den Einkauf ab und trollte mich zur Gaststätte unter dem Vorwand, frische Tischtücher auflegen zu wollen.

Mitten in dem halbdunklen Gastraum prangte ein großer grüner Billardtisch. Die drei Kugeln lagen darauf und ich brauchte mir nur noch diese Holzstange zu holen, die Opa Teigeler 'Queue' nannte und schon konnte es los gehen mit dem tollen Spiel, das die Erwachsenen so interessant fanden. Einen Stuhl geholt und ran an den Tisch und gespielt. Doch diese Kugeln waren eigensinnig. Sie wollten nicht so rollen, wie ich es wollte. Dann dieser lange Holzstab, Unglück über Unglück, erst fiel der Stuhl um, dann stak dieser Holzstab in der grünen Fläche und ich lag auf dem Fußboden. Wenn das Opa Wilhelm erfuhr oder gar meine Mutti! Die Folgen, die ich mir ausmalte, waren fürchterlich.

Ich stand schnell vom Fußboden auf und versuchte, alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich strich über das weiche, grüne Tuch und versuchte, wie in einer Tischdecke, die Falte wieder glatt zu streichen. Das gelang mir natürlich nicht, weil es zerrissen war. Es war aber zumindest so glatt, daß man den Riss im ersten Moment nicht erkennen konnte. Einmal schaute ich mich noch verstohlen um und verschwand ganz schnell in dem Lebensmittelgeschäft, unbemerkt. Schuldbewusst versuchte ich nun mit ein paar Tätigkeiten wie Staubputzen, Tütenstapeln und noch mehr Salz abwiegen, von dem Geschehenen abzulenken. Sollte ich nun das Glück haben und unbemerkt bis zum Abend zu bleiben, so war ich gerettet. Meine Schandtat blieb während unseres Aufenthaltes, dem Himmel sei Dank, unbemerkt.

Der Rest dieser Zeit verlief ohne größere Aufregungen. Ich lernte noch eine freundliche Frau kennen, die bei Tante Lieschen geputzt hat. Diese Frau hat mich einmal mit zu ihr nach Hause mitgenommen. Sehr zu meinen Leidwesen, denn sie hatte einen Wellensittich oder zwei, ich weiß es nicht mehr so genau. Ich erinnere mich nur daran, daß ich mich fürchtete vor diesen fliegenden Ungeheuern. Sie durften überall landen, das weiß ich noch genau!

Vor dem Haus bei Tante Lieschen konnte ich auch nicht spielen. Es war alles so trostlos. Direkt vor dem Küchenfenster war die Mauer der Hütten-Union. In den Fragmenten des Hofes sah man noch die Reste eines ehemaligen Gartenrestaurantes, es müssen einmal lustigere Zeiten hier stattgefunden haben. In den Kellerregalen waren auch noch unzählige große Bierkrüge zu finden und Portionskännchen, die mein Kinderherz immer hüpfen ließen. So etwas hätte ich gerne in meiner Puppenstube, winzige Milchkännchen, winzige Zuckerdöschen, kleine Kaffeekännchen. War das alles schön, aber das durfte ich nicht haben. Irgendwie traurig, daß es das Gartenrestaurant nicht mehr gab.

Während ich noch so in Gedanken versunken war, rief meine Mutter nach mir. Der Onkel Josef wäre angekommen und wollte uns mit zur Tante Helmi nach Schönau nehmen. Prima, endlich was anderes. Nach den ganzen Krämereien im Hause der Verwandten eine willkommene Abwechslung. Zudem würde es sicherlich toll. Sie hatten einen einen großen Hund namens Bongo, er war schwarz und fraß Schokolade. Dann war da noch Wastl, aber der war langweilig, weil er ein sehr alter Dackel war.

Aber das Schönste in diesem Haus war das Klavier, ein echtes Klavier. Ich war ja schon vorgebildet. Fräulein vom Bruch, meine Musiklehrerin, hatte mich auf dem musikalischen Gebiet sehr verwöhnt. Ich durfte zu Schulentlassungsfeiern, Weihnachtsfeiern und Sportfesten mit dem Schulchor immer zusammen etwas singen, zu Weihnachten in der Kirche auch ein Solo, weil ihr meine Stimme gefiel. Zu den Proben durfte ich zu Ihr nach Hause kommen, und Sie begleitete mich am Klavier. Himmel, war das für mich wichtig! Aber jetzt war ich im Besitz dieses wichtigen Instrumentes, ich konnte mich selbst begleiten. So glaubte ich jedenfalls!

Hin zu dem Klavier, die Leuchter zurechtgerückt, das Höckerchen niedriger gestellt, Gas gegeben, denn wozu waren die Pedale da? Jetzt begann ich zu singen "Freude schöner Götterfunken", das typische Schulentlassungslied, ich konnte es auswendig. Singen ging ja gut, aber die Töne aus dem Klavier wollten sich nicht so ordnen wie bei Fräulein vom Bruch. Obwohl ich schwarze und weißeTasten genau so bewegte wie sie. Dieses Tongetümmel hörte meine Tante Helmi und kam ins Zimmer. Zu meinem Erstaunen ließ sie mich noch ein wenig gewähren.

Danach sagte sie ganz ruhig, das Klavier ist sowieso verstimmt und entrang mir das Höckerchen. Dann klimperte sie ein wenig, und intonierte dann einen Wiener Walzer und ein paar leichte Volkslieder. Ich war begeistert und wünschte mir nichts sehnlicher, als Klavier spielen zu können. Aber da waren immer noch meine Eltern, die sagten, daß sie für so einen Quatsch nichts übrig hätten. In diesem Alter wollen Kinder immer alles, Kindergeplapper, dummes Zeug. Ich sollte mich anstrengen und immer Zweien und Einsen schreiben in den wichtigen Fächern wie Deutsch und Mathematik, dann bekomme ich schöne Sachen, und darf in einem Büro arbeiten. Die Wünsche meiner Eltern diesbezüglich zu erfüllen, fiel mir sehr schwer. Meine Lieblingsfächer waren nun einmal Kunst und Musik, in Musik behielt ich auch die Note Eins ohne zusätzliche Arbeit, obwohl meine Lehrerin sehr hohe Ansprüche hatte.

Kunst, na das Malen war ohnehin kein Problem für mich, meine "Werke" hingen immer auf dem Schulflur vor dem Klassenzimmer. Ich weiß noch, wie böse mir meine Schulkameradin war, als ihr Portrait auf dem Schulflur hing. Dann folgten noch Deutsch, mit Vorliebe Referate, Englisch, Geschichte, dann ein Durchsacker kaufmännisches Rechnen und folgend der Rest. Doch ich weiche vom Thema ab. Das Thema Klavier hatte sich nach dem Klavierspiel der Tante, die dann danach beherzt den Deckel über dem Klavier verschloss, an diesem Tage in dem Hause für mich auch erledigt. Ich weiß zwar nicht mehr, was die Erwachsenen an diesem Tage noch machten, ich verschwand nämlich ins Obergeschoss.

Dort durchforschte ich das Zimmer von Ursula, der Tochter dieser Tante Helmi, die eine Lehre im Seidenhaus Schmitz machte und infolgedessen nicht anwesend war. Es war ein tolles Zimmer mit einem Bad direkt anschließend. Viele interessante Dinge wie Lippenstifte und Nagellacke in den verrücktesten Farben fand ich dort. Ja, wenn ich groß bin, lackiere ich meine Fingernägel auch lila, das war mir klar. In Ursulas Wohnraum erweckte noch ein schicker Kofferplattenspieler mein Interesse, doch ich war nicht in der Lage, den Plattenspieler zu starten. Heute glaube ich, daß es auch besser für mich war, mit dem Klavier hatte ich die Geduld der Verwandtschaft wohl schon ziemlich überfordert. Noch immer nicht wissend, was die Erwachsenen da getrieben hatten, ging der Tag zu Ende und Onkel Jupp brachte uns über den Westenhellweg mit dem VW-Bus nach Hause. Am nächsten Tag war der Abreisetag. Wir frühstückten noch einmal gemütlich miteinander, mit den üblichen Ritualen, und dann durfte ich mir noch ein paar Süßigkeiten aussuchen für die Heimreise. Nachdem auch noch der unangenehme Augenblick mit dem Küsschen an Opa Wilhelm durchgestanden war, ging es dann zum Bahnhof. Der Weg zum Bahnhof war auch zu Fuß nicht sehr lang, ich mochte den Bahnhof nicht, denn in unmittelbarer Nähe waren die großen Brauereien und das roch so seltsam, ich habe den Geruch noch heute in der Nase.

Nachdem der Zug eingelaufen war, suchte ich mir schnell einen Platz und ließ die zurückliegende Zeit an mir Revue passieren. Denn etwas gab es in dieser Zeit, das durfte weder Mutti noch Tante Lieschen jemals wissen. An einem Tag, an dem ich mal wieder nicht wusste, was ich anstellen sollte, traf ich auf der Treppe vor dem Ladenlokal von Tante Lieschen ein paar Kinder. Sie fragten mich, ob ich mit Ihnen spielen wollte. Ich wusste nicht so recht, ob ich ja sagen sollte, denn sie waren etwas zerlumpt gekleidet. Ich war sehr skeptisch, trotzdem ließ ich mich überreden, mit Ihnen auf dem nahegelegenen Spielplatz ein bisschen herumzutollen. Sie fragten mich, ob ich nicht etwas Taschengeld hätte. Ich hatte aber nichts, daraufhin begannen sie zu überlegen, ob ich nicht etwas hätte, was Geld einbrächte.

Sie sahen den Ring an meinem Finger, den ich mir aufgesetzt hatte, als ich die Kleider probierte. Oh Schreck, ich hatte ihn vergessen, die verwahrlosten Kinder schubsten mich um und klauten mir den Ring. Es war so schrecklich, ich habe zu hause nie solche Kinder kennen gelernt. Von diesem Tage an traute ich mich in Dortmund nicht mehr aus dem Haus. Ich hatte große Angst vor der Entdeckung dieser Tat. Erst nach einem Jahr vermisste meine Tante ihren Ring, doch wegen Ihrer Krankheit glaubte man, daß sie verstört wäre. Trotzdem habe ich das schlechte Gewissen wegen meiner Untat behalten. Unterdessen waren wir am Heimatort angekommen. Der einförmige Alltag begann wieder für mich, normale Kinder und normale Spiele und ganz langsam verwischte sich bei mir der Ausflug in eine andere Welt.

© 2003 Chris Jäger


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